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Wahlen alleine reichen nicht: Könnten Bürger*innenräte die Demokratie in Deutschland retten?

Händchenhaltende Gruppe von Erwachsenen vor dem Reichstagsgebäude
Aktivisten vor dem deutschen Reichstagsgebäude während „Democracy for Future“, ein Event veranstaltet in Berlin am 15. November 2019 von Mehr Demokratie. © Mehr Demokratie/Jan Hagelstein

Der Wahlkampf tritt in die heiße Phase. Viele hoffen, dass endlich die Sachthemen mehr Raum bekommen – etwa Klimaschutz, Steuerpolitik, soziale Gerechtigkeit und öffentliche Infrastruktur. Wenn man sich die kürzlichen Wahlarena-Sendungen ansieht und die Fragen aus dem Publikum hört, gewinnt man den Eindruck: Für die meisten Menschen spielen Diskussionen über rote Socken, Gendersternchen und die vielen anderen hitzigen Diskussionen eine untergeordnete Rolle. Sie treiben ganz konkrete Alltagsfragen um, die in der politischen Debatte oft zu kurz kommen.

Dementsprechend überrascht es nicht, dass viele Wähler*innen im Wahlkampf nicht erreicht werden und ihr Vertrauen in die Demokratie schwindet. Aus der Demokratieforschung wissen wir: Viele sind vor allem deswegen unzufrieden mit unserer Demokratie, weil sie den Eindruck haben, keinen Einfluss auf politische Entscheidungen zu haben. Die Hälfte der Deutschen fühlt sich von unserem politischen System nicht repräsentiert, so eine Umfrage von More in Common. Diese Menschen interessiert der Wahlkampf nicht, da ihnen eine aktive Beteiligung am politischen Prozess verwehrt bleibt und Demokratiethemen im Wahlkampf gar nicht vorkommen: Debatten zu demokratischen Innovationen oder Veränderungen? Fehlanzeige!

Tatsächlich arbeitet die deutsche Demokratie im Großen und Ganzen immer noch mit den gleichen Institutionen und Prozessen, wie bei ihrer Gründung vor mehr als 70 Jahren. Allerdings hat sich die gesellschaftliche Realität seitdem radikal geändert: durch die Bildungsexpansion, neue Informations- und Kommunikationsmedien, und die Modernisierung der Lebens- und Arbeitswelt haben die Bundesbürger*innen im Jahr 2021 viel mehr Ressourcen, Kapazitäten und Interesse am politischen Leben teilzuhaben. Auf diesen weitverbreiteten Wunsch nach mehr Beteiligung hat das politische System bis jetzt jedoch nicht reagiert.

Wie schöpfen wir dieses ungenutzte demokratische Potential aus? Probleme, die am besten durch breite und tiefe Beteiligungsprozesse aufgearbeitet und gelöst werden können, gibt es genug: von den Folgen der Corona-Krise, der Frage wie wir die Künstliche Intelligenz nutzen oder einschränken wollen, bis zur Jahrhundertaufgabe, die anstehende Transformation zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft zu gestalten.

Hier bieten sich vor allem Bürger*innenräte als geeignete Partizipationsform an, bei denen sich eine zufällig und repräsentativ ausgewählte Zahl von Personen über mehrere Monate intensiv und unter Einbeziehung von Expert*innen mit einer politischen Frage befasst und Empfehlungen für die Politik erarbeitet.

Das klingt vielleicht wie eine demokratietheoretische Träumerei, aber so verrückt ist das nicht. Viele Länder machen vor, dass es gehen kann. Zum Beispiel Irland, wo ein Bürger*innenrat den Volksentscheid zur Ehe für alle vorbereitet hat. In Frankreich erarbeitete ein von der Regierung eingesetzter Rat konkrete Empfehlungen für die Einhaltung des Pariser Klimaabkommens und in Kanada hat ein Rat von Bürger*innen ein Programm gegen Hass im Internet entwickelt. Das sind nur wenige Beispiele, die zeigen: Der Trend geht zum Mitmachen. Die Gesellschaft für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die deliberative Verfahren weltweit zusammenträgt, spricht von einer regelrechten „deliberativen Welle“.

Natürlich sind diese neuen Verfahren mit Herausforderungen verbunden: Wie kann eine möglichst repräsentative Abbildung der Gesellschaft gesichert werden? Wie werden die Expert*innen, die die Bürger*innen beraten, ausgewählt? Wie kann sichergestellt werden, dass die Empfehlungen wirklich in den politischen Prozess einfließen? Diese Fragen müssen beantwortet werden. Die Mühe lohnt sich, denn wir sehen schon jetzt, dass die Demokratie-Expert*innen von jedem durchgeführten Bürger*innenrat lernen und sich mittlerweile „best practice“-Standards etabliert haben. Ein solcher Standard wurde in der deutschsprachigen Region Belgiens, mit Hauptstadt Eupen, gesetzt. In Eupen sind Bürger*innenräte sogar als eigenständige Kammer in das demokratische System integriert. Eine solche gesetzliche Verankerung etabliert den Einsatz von Mitmach-Räten langfristig und kann dadurch das weiterhin bestehende Grundmodell der repräsentativen Demokratie ergänzen und stärken.

Wie könnte eine mögliche Innovation in Deutschland aussehen? Eine feste Bürgerratskammer, wie in Eupen steht derzeit nicht auf der Tagesordnung – aber eine gesetzliche Verankerung von Bürger*innenräten, um diese dann punktuell einsetzen zu können, wäre ein wichtiger nächster Schritt. Die Chancen auf eine solche Einbettung von Bürger*innenräten in die parlamentarische Demokratie in Deutschland stehen besser als gedacht. Der Bundestag und auch die Bundestagsverwaltung haben mit dem Bürger*innenrat zu Deutschlands Rolle in der Welt, der Anfang des Jahres stattfand, bereits gute Erfahrungen mit diesem Modell gemacht. Der kürzlich zu Ende gegangene Klima-Bürger*innenrat stieß auf positives Echo in den Medien und der Politik. Auf lokaler Ebene findet schon länger eine Explosion von Bürgerräten und anderen Beteiligungsformen statt. Eine Umfrage zeigte, dass mehr als drei Viertel der Deutschen solche Räte positiv sehen. Und nicht zuletzt gibt es mehr und mehr ehemalige Teilnehmer*innen, die sich dazu entscheiden, aktiv in die Politik zu gehen, um sich für neue Beteiligungsmittel einzusetzen. 

Der Verein Mehr Demokratie e.V. hat daher eine breit anlegte Kampagne zur Verankerung von Bürger*innenräten in unserer Demokratie gestartet, die wir von der Open Society Stiftung unterstützen. Die Frage der demokratischen Erneuerung soll in den bundesdeutschen Wahlkampf und in möglichst viele Wahlkreise getragen werden, um die jeweiligen Kandidat*innen für diese Reform zu gewinnen.

Man sollte meinen, die Demokratie-Aktivist*innen rennen überall offene Türen ein. Schließlich fordern alle auf dem Boden der Verfassung stehenden Parteien die Stärkung der Demokratie in Deutschland. Aber werden den Sonntagsreden auch entsprechende konkrete Zusagen und Schritte folgen, zum Beispiel durch eine Verpflichtung zu mehr Partizipationsmöglichkeiten im Koalitionsvertrag? Wir haben unzählige Beispiele, die zeigen, dass mehr Beteiligung funktionieren kann und dass sie der Politikverdrossenheit und Spaltung in unserer Gesellschaft entgegenwirken kann. Jetzt brauchen wir auch den Mut und den politischen Willen, unsere Demokratie zu verändern und zu erweitern – damit sie Bestand haben kann.

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